Zum Inhalt springen
Warten auf Godot, Theater Aachen 2016
© Dorien Thomsen
WARTEN AUF GODOT, Theater Aachen 2016 – Tim Knapper (Wladimir), Philipp Manuel Rothkopf (Estragon) – © Dorien Thomsen

Die Biomechanik (eigentlich: Biomechanik des Schauspielens oder theatrale Biomechanik) ist ein Ausbildungs- und Spielsystem für Schauspielende, das von dem russischen Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter und Theoretiker Wsewolod E. Meyerhold Anfang der 1920er Jahre entwickelt wurde. Die Biomechanik war Teil der Ausbildung an den Schauspielschulen des staatlichen Meyerhold-Theaters. Sie entstand im Bestreben, auf die gesellschaftlichen Umwälzungen der Oktoberrevolution mit der Schaffung einer grundlegend neuen, synthetischen Bühnenästhetik zu reagieren.

Die Biomechanik vereint Elemente des traditionellen Theaters wie der commedia dell’arte, des russischen Jahrmarktstheaters und diverser asiatischer Theaterformen, vor allem der Peking-Oper und des Kabuki, mit den Reformbestrebungen des frühen 20. Jahrhunderts, wie die von Craig, Dalcroze und Appia, ferner noch gewisse Erkenntnisse der zeitgenössischen Arbeitsergonomie (Taylorismus). Auch Einflüsse der damals noch jungen (Stumm-) Filmkunst sind vorhanden.

Meyerhold versuchte, sich mit seiner konstruktivistisch-materialistischen Biomechanik vor allem von der Psychotechnik seines Lehrers und Mentors Stanislawski, aber auch von den frühen Formen des Ausdrucks-tanzes, deutlich abzugrenzen, geriet aber nach zunächst großen Erfolgen in der NÖP-Zeit der 20er Jahre zunehmend unter politischen Druck, bis er schließlich als „Formalist“ der Doktrin des sozialistischen Realismus unter Stalin zum Opfer fiel.

Seiner Ermordung im Jahr 1940 folgte die Vernichtung seiner Forschungs-arbeiten, und Meyerhold wurde zur Unperson erklärt. Erst in den 1970er Jahren gab es vorsichtige Bestrebungen einer Wiederbelebung der Biomechanik unter dem ehemaligen Chefinstrukteur Nikolai Kustow in Moskau. Gleichzeitig versuchten Mel Gordon und das Living Theater in New York sich an einer Rekonstruktion.

Aus Kustows Klasse am Theater der Satire gingen zwei Instrukteure hervor, die seit den frühen 1990er Jahren die lebendige Tradition der Biomechanik erneut einer interessierten Fachöffentlichkeit zugänglich machten, Gennadi Bogdanow und Alexander Lewinski. Vor allem in Russland, aber auch in Westeuropa, Nordamerika und Australien hat die Biomechanik seitdem eine neue Phase der praktischen Erprobung erfahren. Seit den 1990er Jahren gibt es immer wieder Versuche, das komplexe Trainings- und Ausbildungssystem in eine theatrale Praxis zu überführen, und die Zahl der biomechanisch geschulten Darstellenden und Lehrenden ist seither stetig gewachsen.

Die Biomechanik ist eine Schule der Fertigkeiten. Sie zielt auf die umfassende Ausbildung des Darstellungs-Apparates und die Bereitstellung einer Vielzahl von Ausdrucksmitteln. Das theatralisch-biomechanische Training umfaßt im Wesentlichen ein Kompendium von Übungen zum Aufbau und zur Verbesserung der physischen Konstitution der Schauspielenden sowie zur Einstudierung der Prinzipien von Bewegungsanalyse und -konstruktion. Anhand von vorbereitenden Übungssequenzen und den eigentlichen „Etüden“, kanonisierten Bewegungsformen mit einfachen theatralen Sujets, wird ein Verfahren zur Erstellung komplexer physischer Handlungen trainiert.

Formbewußtsein, räumliche Koordination, Körperbeherrschung, Rhythmik und Musikalität, vor allem aber auch Exzentrik und Groteske, also die Suche nach körperlichen Extremzuständen, sind wichtige Merkmale der biomechanischen Spielkultur. Biomechanisch geschulte Schauspielende beherrschen ein äußerst breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten und sind in der Lage, binnen kürzester Zeit die Spielregister zu wechseln, vom Expressiv-Artifiziellen über einen reduzierten Naturalismus bis hin zu Slapstick und Clownsspiel.

Die verblüffende Vielseitigkeit der Biomechanik und ihre Fähigkeit, neue Einflüsse in ihr eigenes System zu integrieren, machen sie in der heutigen Situation zu einem wirkungsvollen Instrument eklektischer, postdramatischer Spielweisen, die den Vorspielcharakter des Theaters ästhetisch reflektieren.

Biomechanics
Berlin

Classes for actors
by Tony De Maeyer

Internationales
Theaterinstitut
ITI

Mediathek
für Tanz und Theater
des MIME Centrum Berlin

Centro Internationale
Studi

Di Biomeccanica Teatrale
Perugia

Apparatus

Film, Media
and Digital Cultures
in Eastern Europe

ES IST NICHT DORT, ES IST DA –  ADK Ludwigsburg 2017  ©Steven Schultz
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner